Wofür wir stehen

 

Wie jede zugespitzte Situation macht die gegenwärtige kenntlich, wofür wir stehen, wo wir wanken oder schwanken, sie zeigt, ziemlich unmittelbar, unsere Werte, unsere Inneres, unsere Eingeweide, wenn man so will.

Eine Trennlinie wird erschütternd klar.

Trägt jemand eine Maske, um sich zu schützen? Oder um andere zu schützen?

Jeder, die im Netz liest, ist klar, die üblichen Atemmasken taugen weniger gut, sich selbst zu schützen. Aber sie sind gut und klug, falls man selber unwissentlich infiziert, andere davor zu bewahren. Dafür aber haben sich die Menschen vermutlich nicht um die Masken gerissen.

Will man sich von den anderen fernhalten, weil sie einen anstecken könnten? Oder fürchtet man womöglich doch selber infiziert zu sein und sorgt sich, über jemanden Angst und Sorge und Krankheit und schlimmstenfalls den Tod zu bringen?

Denn darum geht es, um Sorge, um Angst, um Krankheit, um den Tod.

Die letzten Jahre habe ich oft gedacht, daß die Welt zugrunde geht an Gier und Geltungssucht. Für unsere menschliche Welt braucht es noch nicht einmal diese beiden, es ist wirklich noch simpler: an Selbstsucht kann sie zugrunde gehen.

Zeichen dafür ist die Anzahl der Menschen, die nicht begreifen wollen, daß die Politik alles tut, um gewisse Zustände zu vermeiden, um Bilder zu vermeiden, Bilder von Menschen, die allein und elend ersticken, von Menschen, die kein Abschiedswort sagen können oder dürfen, die ihre Liebsten nicht am Bett versammeln können, die in ärgster Angst sterben müssen.

Das eine ist es, gegen etwas zu kämpfen, das andere dafür, daß ewas nicht geschieht. Es ist schwieriger, krasse Maßnahmen zu erklären, wenn sie richtig waren und folglich nicht eintritt, was man vermeiden wollte.

Die Logik kann aber doch jeder begreifen. Unsere Gesellschaft will eine Gesellschaft bleiben, die nicht kaltschnäuzig das Leid von Kranken, von älteren Menschen, von schon gefährdeten und gebeutelten Menschen hinnimmt. Wer wollte denn in einer Gesellschaft leben, die das tut?

Wir, Bürger eines Gemeinwesens, stehen für etwas. Wir, nämlich all die Menschen, denen nicht einleuchtet, über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg, daß man das eigene Wohl und das der eigenen kleinen Gruppe über das Wohl anderer Menschen stellen darf. Wir: alle Menschen, die meinen, sonst könne es kein gemeinsames lebenswertes Leben geben.

Nur eine Grippe, sagen viele, und vermutlich haben sie niemanden in ihrer Umgebung an eine Grippe verloren, an die folgende Lungen- oder Herzmuskelentzüngung, verloren trotz optimaler medizinischer Versorgung, die in einer Situation mit vielen Kranken, einer Situation der Bedrängnis oder gar Panik niemals so gewährleistet sein könnte.

Nur eine Grippe, was für ein Aufstand deswegen, was für ein Schaden, sagen viele.

Unbedacht, kann man das nennen, kurzsichtig, dumm. Und manchmal möchte man rufen: Das ist niederträchtig, einfach niederträchtig.

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