Für Peter

Als ich ihn die ersten Male sah, hatte ich Angst vor ihm, ein groß gewachsener Mann, ungepflegt, sichtbar ein Trinker. Er hatte ein kleines Auto, das wir manchmal im Wald sahen, eines Tages auch ihn, da er unvermutet aus dem Gebüsch trat. Um den Schrecken zu überspielen, fragte ich, was er in der Tasche trage: Pilze, antwortete er, Pfifferlinge. Und dann sagte er: Ich zeige dir die Stelle!

Kein Pilzsammler zeigt anderen die guten Stellen.

Anderntags kam er in den Hof, mit einem Korb voller Maronen und Krauser Glucke. Krause Glucke hatte ich nie gesehen und nie gegessen, Peter erklärte mir, wo sie wachsen und wie man sie putzt. Gelegentlich brachte er welche, ich habe noch einen Tüte eingefroren.

Weil er einen Minijob in der Schule neben uns hatte, sah ich ihn öfter, und der Hausmeister , auch Peter mit Namen, ein Freund, riet mir, als ich mit dem hohen Gras kämpfte: Frag Peter. Pjiotr nannte ich ihn dann, um ihn vom anderen Peter zu unterscheiden; ich blieb lange beim Sie. Er duzte mich. Schwer einzuschätzen, wie alt er war, inzwischen weiß ich es, sechsundfünfzig Jahre alt ist er geworden, er war kaum älter als ich es bin. Er mähte mit der Motorsense, dann baute er mit meinem Mann für unsere Scheune einen Holzboden, damit wir dort Filme zeigen können. Wir wollten ihn anstellen, doch als alle Papiere unterschrieben waren, kam er nicht mehr. Wochenlang sahen wir ihn nicht, bis wir alles kündigten. Da tauchte er auf, hielt nicht alle Verabredungen ein, aber genug.

Manchmal brachte ich ihm von Aldi Cordon Bleu mit, Hähnchen, tiefgefroren. Er saß gerne noch bei uns, wir wußten irgendwann, daß er eine Tochter hatte, daß er Hochofenbauer war, er erzählte von den Schutzkleidern, die sie getragen hatten, von den Schuhen, von den Schichten. Eine Zeitlang hatte er bei der Berliner Müllabfuhr gearbeitet, aber er hatte ja getrunken. Ausgerechnet im Dorf und ausgerechnet als er Fahrrad fuhr, kontrollierte ihn die Polizei und nahm ihm den Führerschein ab. Macht nichts, sagte er. Daß er einen Magendurchbruch gehabt hatte und fast gestorben wäre, wußten wir. Im Hof saß er, der Hund lief immer gleich zu ihm hin, er hatte auch Hunde gehabt, er sagte zur Hündin: Da bist du ja, mein Freund.

Irgendwie fasste er Tritt, arbeitete mehr, trank weniger, rasierte sich, für uns hatte er oft keine Zeit, aber ich wußte, wenn wir wirklich Hilfe bräuchten, würde er helfen. Ich wich ihm manchmal aus, weil ich so gern allein bin und nicht immer gern rede. Er war klug. Manchmal braucht man eine ganze Zeit, um sich in jemandes Gesicht zurecht zu finden. Seine Augen hatten einen kindlichen Ausdruck, es war in dem verwitterte Gesicht überraschend. Er war sicher ein gut aussehender Mann gewesen.

Über die Jahre sammelt man die Geschichten eines Freundes, vom Ostern im Schnee, von den Tieren, die er gehabt hatte, von seiner Mutter, dem Magendurchbruch. Einmal brachte er uns Kaninchenpastete. Er wohnte allein in einem winzigen Haus am Richtung Dorfausgang.

Eines Tages erfuhr ich im Laden, daß er tot war. Nachdem er ein paar Tage nirgendwo aufgetaucht war, hatte die Nachbarin die Polizei gerufen. Ich weiß nicht, ob es der Magen war oder ein Herzinfarkt. Er bekam ein anonymes Grab. Das Fahrrad hätte ich gern gehabt, mit dem er immer in die Pilze gefahren ist, ich habe mich nicht getraut zu fragen. Sein Häuschen war schnell leer geräumt, es muß schlimm gewesen sein darin.

Gestern war ich im Wald, so viel habe ich noch nie gefunden in so kurzer Zeit. Krause Glucke, ganz jung und schön. Als wäre er dabei und zeigte mir, wo sie wachsen, dachte ich. Die letzte von ihm behalte ich eingefroren, jedenfalls noch eine Weile. Wir waren dann längst per Du.

Ich dachte, wenn ich in einem Film die Rolle eines russischen Heiligen besetzen müsste, würde ich ihn wählen. Natürlich war er kein Heiliger, und das Leben hat ihm übel mitgespielt oder er ihm, er hat sich zu Tode gesoffen und geraucht, so muß man es wohl sagen. Aber er hatte eine große Würde. Jetzt weiß ich nicht, wo er damals die Pfifferlinge her hatte. Und er weiß nicht, wie sehr wir ihn vermissen. Das ist es. Gegen den Tod kann man nichts machen, na gut, aber das man nicht sagen: du fehlst uns so. Das ist nicht Recht.

Jetzt ist Peter schon Monate tot. Aber man wollte ihm doch sagen: wir denken an dich.